journalismus

Eine Auswahl veröffentlichter Texte.


Bis sie nackt im Leben sitzt.

erschienen in der Freitag, 18. Dezember 2011

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Mit den Bildern von Gundula Schulze Eldowy lockt ein verschwundenes Berlin ins C/O im Postfuhramt. Der Weg in die Erinnerung führt aber zunächst vorbei an „Nobles“, „Artists“ und „Performers“ – eine zweite Ausstellung im Haus zeigt die derart geordneten Bilder des Paparazzos Ron Galella. Treppauf steigt man dann hinab ins „Herbstlaub des Vergessens“ (Schulze Eldowy). Ein scharfer, gelungener Kontrast zwischen oben und unten.

Die frühen Jahre ist das Scheunenviertel in den Siebzigern und Achtzigern. Die alte Postbotin, die mit Brille und Lupe Adressen entziffert. Lothar, nackt auf dem Schrankbett, über ihm Schnaps, hinter ihm am Kopfende ein um 90 Grad nach links gedrehtes Porträt einer Frau. So liegt sie neben ihm, wenn er ins Kissen sinkt. Die gegerbten Gesichter entfesseln die eigenen Erinnerungen an den angrenzenden Kiez: An Kutte, der mit Spaß, Promille und einer Bierflasche auf dem Kopf, aber ohne darum gebeten zu werden, den Verkehr regelte. An den Hausmeister des Altenheims gegenüber, der mit den tiefen Augenhöhlen noch am Leben schon so gestorben aussah. Deren Bilder könnten hier auch hängen, in der Berliner Geschichte aus zerfurchten Berliner Gesichtern.
Die Stadtaufnahmen, dem Verfall überlassene Straßen, unterscheiden sich wenig von den Sujets Bernd Heydens, Roger Melis’ oder Gerd Danigels, von denen ebenfalls Bildbände bei Lehmstedt erschienen sind. Den Unterschied machen die Nahaufnahmen der Menschen im Kiez – rigorose Bilder von Hartgesottenen, die letzten Zuckungen eines schwindenden Milieus, um den Begriff doch zu bemühen, denn hier passt er noch. Die Nähe mag daher rühren, dass die junge Fotografin die Verhältnisse ihrer Motive teilte, in erster Linie als Nachbarin, in zweiter als Fotografin. „Man kann nicht in einer Gegend wohnen und systematisch deren Einwohner und die Lebensart ignorieren“, sagt die Künstlerin.

So ließ auch Tamerlan, die welke Schönheit, sie in ihr Leben. Stolz und Not, Wut und Angst – ablesbar an Falten, Blick, Haltung. Die alte Dame schreibt der Fotografin einsame Zeilen aus dem Krankenhaus – „Wenn du mein gutes Menschlein mir nicht vergessen hast“ – und wird von Bild zu Bild immer weniger, bis sie schließlich ohne Beine nackt im Leben sitzt.
Nackt sind viele. Die Akte sind Zeugnisse jener Natürlichkeit des Nacktseins, über die man kaum noch schreiben mag, weil sie zum Klischee verkommen ist. Die Serie Der große und der kleine Schritt aus den letzten Jahren der DDR verweigert Distanz. Es sind teils Motive ohne Gnade, in Farbe und dadurch viel näher als das Schwarz-Weiß. Heute sieht man dem Damals an, dass etwas an sein Ende kam: „Diesmal löst sich eine ganze Welt auf. Nicht nur ein Land. Die Auflösung (…) greift in jedes einzelne Leben“, steht an der Wand.

Der Heimweg führt über den Hackeschen Markt und durch ebenjenes Scheunenviertel. Der Rückschritt ins Jetzt wird auch begleitet von „Nobles“, „Artists“ und „Performers“. Kaum Grau und keine Narben mehr sichtbar. Und doch ist das nur die vorläufige Antwort auf den Wandspruch, den Schulze Eldowy dokumentiert hat: „Und was soll aus uns werden?“ Irgendwann bröckelt der Putz auf diesen Mauern wieder. „Hier hält sich nichts lang. Alles geht in kurzer Zeit sang- und klanglos unter“, sagt die Fotografin der schönen, schonungslosen Bilder dieser Gegend.


Kalte Kinder.

erschienen in der Freitag, 26. Mai 2012.

2009. In Cannes gewinnt Das weiße Band von Michael Haneke die Goldene Palme. Die Fabel deutet an, wo überall eine Wiege für die Kapitalverbrechen des 20. Jahrhunderts stand.

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Nach der Premiere des Films Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte am 21. Mai 2009 bei den Filmfestspielen in Cannes erwartet eine verstörte Journalistin vom Regisseur Michael Haneke im Pressegespräch eine Antwort. Um ihre Verstörung zu kurieren, will sie Gewissheit in der Schuldfrage, ob diese Verbrechen, die sich im Film zutragen, tatsächlich Verbrechen von Kindern seien. „Es ist die Aufgabe von Kunst, Fragen zu stellen und nicht Antworten zu geben“, antwortet Haneke. Die Journalistin bleibt verstört und Haneke seinem Prinzip treu, dass seine Filme nur ein Sprungbrett seien, von dem der Zuschauer den Sprung wagen müsse.
Die französische Schauspielerin und Jury-Präsidentin Isabelle Huppert übergab Haneke kurz danach die Goldene Palme für Das weiße Band. „Es geht ihm nicht um kuschelige Erlebnisse, sondern darum, dem Zuschauer eine Erfahrung zu verschaffen. Er greift ihn da an, wo er am verletzlichsten ist: in seinem Zuschauerdasein. Er attackiert den Status des reinen Beobachters“, füllte Huppert, die in Hanekes Filmen Die Klavierspielerin (2001) und Wolfszeit (2003) spielte, die Sprungbrett-Metapher mit Leben. Hanekes Filme verblassen nicht schon beim Abspann. Die physische und psychische Gewalt gerät mitunter zur Zumutung und mit jedem Zuschauer, der einen seiner Filme noch während der Vorstellung verlässt, wähnt sich Haneke auf seiner Suche einen Millimeter weiter. „Ideal wäre, wenn die Szene so ist, dass die Leute wegschauen, weil sie es nicht aushalten“, sagt er. Die Wahrheit könne so intensiv sein, dass man sie nicht ertrage. Das Ausloten der Fallhöhe von Hanekes Sprungbrettern bleibt dabei stets des Zuschauers Aufgabe.

Auch in Das weiße Band ist die Gewalt immer da. Zu Gesicht bekommt man in diesem (Un-)Sittenbild einer norddeutschen Dorfgemeinschaft kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges aber immer nur ihre Folgen. Es bleibt eine Ahnung davon, welche Verbrechen des 20. Jahrhunderts hier – mit einem auf der Zeitachse umgestülpten Zitat Brechts umschrieben – schon in der spätfeudalen Dorfgemeinschaft und im Patriarchat der Familie nach strengem protestantischen Ideal und den Erziehungsregeln schwarzer Pädagogik den fruchtbaren Schoß haben könnten, aus dem sie krochen.
Die politische Realität jener Zeit bleibt bis zum Filmschluss, der Kriegsbeginn nach der Bluttat von Sarajevo, verbannt aus diesem Soziotop namens Eichwald. Um den Jahreswechsel 1913/1914 kommt es im Dorf zu Verbrechen, die der Erzähler, der damalige Dorflehrer, rückblickend als „seltsame Ereignisse“ umschreibt. Da stürzt der Dorfarzt nach einem Ausritt mit dem Pferd über ein heimtückisch gespanntes Seil. Eine Bäuerin stirbt bei der Arbeit für den Baron in der Ruine eines Sägewerks. Am Tag des Erntedankfestes verschwindet Sigi, der Sohn des Barons, und wird schwer misshandelt in jenem Sägewerk gefunden. Bald brennt eine Scheune auf dem Gutshof, das jüngste Kind der Gutsverwalter-Familie wird in einer Winternacht ans offene Fenster gelegt und erfriert beinah. Schließlich findet man den behinderten Sohn der Hebamme grausam malträtiert im Wald.

Das weiße Band ist Hanekes Versuch, zur „Wurzel des Bösen“ vorzudringen. Die Aufklärung der Verbrechen bleibt aus, doch die älteren Kinder aus dem Dorf scheinen dieses Böse zu verkörpern, sind sie doch stets schnell zur Stelle bei den „seltsamen Ereignissen“. Die Wurzeln aber liegen in der Bigotterie und der degenerierten Moral der denunziantischen Dorfgemeinschaft sowie im patriarchalischen Gebären der Familienoberhäupte. Die dörflichen „Diktatoren“ – Baron, Pfarrer oder Dorfarzt – halten blindlings eine religiös-gesellschaftliche Vorstellung künstlich am Leben, die nur noch Bestand haben kann, wenn sie den Kindern mit der Rute eingebläut wird, mit der sie jeder Schlag innerlich ein Stück mehr abtötet, bis sie lebendig erkalten. Wenn allem Leben die Luft genommen wird. Die „Vergletscherung der Seele“ zieht sich als Motiv durch Hanekes Filme, in Das weiße Band befördert durch permanente Strafandrohung noch für die kindlichsten Vergehen. Als seine Kinder zu spät zum Abendessen erscheinen, sagt der Pfarrer, dessen bebendes Kinn und die zusammengepressten Lippen einen im falschen Denken gefangenen Mann verraten: „Ich weiß nicht, was trauriger ist, euer Fortbleiben oder euer Wiederkommen.“ Die obligatorischen Rutenschläge dafür schmerzten ihn als Peiniger schließlich mehr, als die Kinder unter den Hieben zu leiden hätten.
Für ihre Verfehlungen müssen die Kinder ein weißes Band tragen, dass sie im Dorf als Sünder brandmarkt. Der Pfarrer fesselt die Hände seines Sohnes nachts ans Bettgestell, damit der nicht masturbiert, derweil sich der Arzt an seiner 14-jährigen Tochter vergeht. Es sind nur die jüngsten Kinder des Dorfes, die zu einer emotionalen Regung wie Empathie noch fähig zu sein scheinen, weil sie die Züchtigungen, die dieses Leben für sie bereit hält, erst so kurz ertragen.

Der Zuschauer bekommt dabei in Das weiße Band, anders als in vielen Filmen Hanekes, immer nur die Folgen der Gewalt zu Gesicht. Man sieht sie explizit nur in den ausgestochenen Augen des behinderten Sohnes der Hebamme, doch sie starrt aus den leeren Blicken der Kinder, die durch das dörfliche Schwarzweiß robotern. Ihre „Aufzucht“ lässt die Kinder das Ideal aufsaugen, dass man ihnen eingeprügelt. Es wird ihnen zur sozialen Handlungsnorm, gegen die ihre Peiniger selbst verstoßen. „Die Kinder halten sich für die rechte Hand Gottes. Sie haben die Gesetze und Ideale verstanden und befolgen sie buchstabengetreu und so werden sie zu Richtern von alljenen, die diese Ideale nicht befolgen“, sagt Haneke in Cannes. Alljene, das sind in diesem Fall die Erwachsenen im Dorf und die Resultate ihrer Fehlbarkeit. Allen voran der Dorfarzt, über den das Gerücht kursiert, der behinderte Sohn der Hebamme, die seine Geliebte ist, sei sein Kind und der die Hebamme angesichts seiner eigenen Erektionsprobleme mit einer unerträglich langen und niederträchtigen, verbalen Tirade demütigt, die in der Frage gipfelt, warum sie nicht einfach sterbe. „Kein Mensch, der Ideale predigt, hält sich selbst hundertprozentig an sie. Ich wollte einen Film machen, der verständlich macht, dass jedes Ideal pervertiert wird, sobald man es verabsolutiert“, erläutert Haneke das Gewaltpotenzial, wenn ein vermeintliches Ideal Ideologie wird.

International hat Das weiße Band nach der Goldenen Palme unter anderem drei europäische Filmpreise und einen Golden Globe gewonnen, war für den Oscar nominiert. Dabei sah die ausländische Kritik in diesen kalten Kindern beinahe einstimmig einen Prolog zur NS-Diktatur, in der sich deren Hass später Bahn bricht. Die semantische Kreuzung von Eichmann und Buchenwald im Dorfnamen stützt das, auch der Erzähler berichtet von den Ereignissen, weil sie „auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen können.“ Haneke allerdings ist die Darstellung von Gewalt zuwider, die es dem Zuschauer leicht macht, Gewalt zwar als existent anzuerkennen, sie auf der Leinwand zu konsumieren, aber nicht als Bedrohung zu empfinden. Ein Eichwald sei nicht nur Wiege der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, weist Haneke die verkürzte Lesart des Films zurück. „Wenn man den Film nur im Kontext des Faschismus sieht, weil es eben ein deutscher Film ist, dann ist es für ausländisches Publikum einfach zu sagen: Es ist ein Film über ein deutsches Problem.“ Diese Distanz gewährt Haneke nicht, trotz des Untertitels Eine deutsche Kindergeschichte. „Jeder Terrorismus entspringt dieser Quelle“, unterstreicht Haneke, dass seiner Suche nach der Wurzel des Bösen im Wechselspiel mit der Schuldfrage eine universalere Anthropologie der Gewalt zugrunde liegt, in der das Böse immer die Summe der Umstände sei. „Es ist nicht nötig, böse zu sein, um schuldig zu werden. Du kannst auch einfach irgendetwas ignorieren.“


Zwischen Knast und Museum.

erschienen in der Freitag, 26. Februar 2012.

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Street Art hat die Institutionen des Kulturbetriebs erobert. Dass sie dort noch nicht ernst genommen wird, zeigt ein Film zur Austellung im Museum of Contemporary Art

Die Kunstform, deren Zeichen einst an Wänden und Zügen laufen gelernt haben, um öffentlichen Raum anders als Werbung unkommerziell zu gestalten, liefert der Werbeindustrie heute ihre Typographie und hat die Institutionen des Kunst- und Kulturbetriebs erobert: Auktionskataloge listen Werke von Graffiti- und Street-Art-Künstlern zu sechsstelligen Preisen, Galerien locken Sprüher aus dem Schachtlicht der U-Bahn-Depots ins Scheinwerferlicht der Vernissagen.
Mit Art in the Streets, einer Ausstellung von mehr als 50 Graffiti-Sprühern und Street Artists, die sich ohne Übertreibung als amerikanische und europäische Pioniere beider Szenen bezeichnen dürfen, gab es im vergangenen Jahr erstmals eine Ausstellung zur Geschichte und Entwicklung dieser Kunstformen in einer renommierten Institution des amerikanischen Kulturbetriebs, dem Museum of Contemporary Art (MoCA) in Los Angeles. Ende März dieses Jahres wandert die Ausstellung konsequenterweise nach New York ins Brooklyn Museum. Während lange Zeit nur ein zweiminütiger Filmtrailer im Netz kursierte, ist nun der ganze Dokumentarfilm Outside In: The Story of Art in the Streets online, in dem Regisseur Alex Stapleton die Künstler sowie die Chronisten ihrer Kunst bei den Ausstellungsvorbereitungen begleitet und sich unter anderem mit dem Paradoxon der Salonfähig- und Museumstauglichkeit dessen beschäftigt, was in seiner originären Form der ästhetischen Aneignung öffentlichen Raums mittels Sprühdosen eine strafbare Handlung ist: Sachbeschädigung durch Farbschmiererei.

Spielfilme, Dokumentationen und Mischformen beider Genres gibt es viele über Graffiti und Street Art. Neben den frühen kulturbegründenden Klassikern wie Style Wars (1983), Wildstyle (1983) oder Beatstreet (1984) wären aus den vergangenen Jahren erwähnenswert: Banksys Mockumentary Exit through the gift shop (2010) sowie die britische Channel4-Doku Graffiti Wars: King Robbo vs Banksy (2011), die sich der jahrelangen Fehde zwischen dem bekanntesten Vertreter der Street Art und einem Londoner Sprüher annimmt und darüber auch eine Seite des Verhältnisses zwischen beiden Kunstformen beschreibt.
Street Art gilt mitunter als weiter entwickelte Wiederbelebung von Graffiti, als künstlerisch aussagekräftigere und wertigere Strömung einer Bewegung. Nicht jeder Sprüher sieht das so. Darüberhinaus dämpft Graffiti Wars auch die Bewunderung vieler für den Künstler Banksy, indem sie den Franzosen Blek le Rat zu Wort kommen lässt, der wohl mehr als nur Inspiration für Banksy gewesen sein muss. Auch aus Deutschland gibt es neuere, sehenswerte Filme über Graffiti, Unlike U (2011) über die Wurzeln der Berliner Szene, ebenso der Spielfilm Wholetrain (2006) aus München. Vor eigenproduzierten Selbstbeweihräucherungen von Sprüher-Crews wie One United Power (2011) hingegen kann man interessierte Ahnungslose nur warnen.

Alex Stapletons Film Outside in: The Story of Arts in the Streets ist trotz seiner Kürze von nur 30 Minuten in puncto Aktualität gegenwärtig eine einzigartige Dokumentation über Graffiti und Street Art. Einerseits, da der kurze Film den Spagat beschreibt, den die Künstler hinlegen müssen, weil sie schon immer mit einem Bein im Knast, nun aber fest mit dem anderen Bein in den großen Museen und Galerien stehen. „Jeder in diesem Museum hat das Gesetz gebrochen, dafür werden wir nun gefeiert“, benennt der Londoner Street Artist Ben Eine, der Graffiti und Street Art als größte Kunstbewegung aller Zeiten beschreibt, die Groteske.

Andererseits untermauert der Film, dass es sich bei Graffiti und Street Art sehr wohl um Kunstformen, Ausdrucks- und Lebensweisen handelt und, wenn überhaupt jemals, nun schon lange nicht mehr nur um eine exklusive jugendliche Subkultur, die marginalisiert werden könnte. Das erste Foto, das Henry Chalfant, unter anderem Koproduzent von Style Wars und einer der wichtigsten Chronisten der frühen New Yorker Szene, von einem besprühten Zug gemacht hat, zeigte den „Christmas Train“ aus dem Jahre 1977. Urheber dieser gesprühten Legende waren Lee, Mono, Slave, Doc und Slug, die zusammen die Crew The Fabulous 5 bildeten und als Spezialisten für Whole Cars und Whole Trains galten, besprühte Waggons oder Züge der New Yorker Metropolitan Transit Authority.
Als Chalfant vergangenes Jahr im Museum vor der Kamera davon erzählt, steht unter anderem dieser Lee, der 1977 den „Christmas Train“ sprühte und 1983 Darsteller in Wild Style war, draußen an der Halle und besprüht die Außenwand des MoCA. Man kann es als Statement deuten, dass Lee auch nach 35 Jahren seinen Beitrag zur Ausstellung Art in the Streets eben „in the streets“ liefert und nicht im Inneren des Museums. Neben Lee Quinones sind im Film mit Fab 5 Freddy und Futura 2000 auch andere New Yorker der ersten Graffiti-Stunden zu sehen. Die europäische Bewegung vertreten Szene-Urgesteine wie der Brite Mode2 oder der Münchner Loomit.

„Sie haben uns reingelassen“

Martha Cooper, die gemeinsam mit Henry Chalfant 1984 Subway Art, einen Bildband über New Yorker Trainwriting, herausgegeben hat und mit Hip Hop Files ein Porträt dieses New Yorks zwischen 1979 und 1984 dazu lieferte, steht staunend in der Ausstellung: „Als ich anfing, diese Kunst zu dokumentieren, hielt ich es für nötig, weil ich dachte, das wird ziemlich bald aussterben.“ Ein Trugschluss zwar, aber er unterstreicht die große Bedeutung der Arbeit von Chalfant, Cooper und anderen Graffiti-Chronisten, ist das Ephemere doch Wesensmerkmal dieser Kunst.

Jeffrey Deitch, der Museumsdirektor des MoCA und Kurator der Ausstellung beschreibt im Film, wie schwer es war, den Kunst- und Kulturbetrieb davon zu überzeugen, dass diese Kunstformen endlich ernst genommen werden. Die Erlaubnis für diese Ausstellung zu bekommen sei eine große Herausforderung gewesen. „Jede große Bewegung in der Kunstgeschichte stieß zunächst auf Ablehnung“, gibt sich der französische Künstler Invader optimistisch. Besser trifft es Saber, ein Sprüher aus Los Angeles: „Sie haben uns reingelassen, das war ihr größter Fehler.“ Dass diese Ausstellung, diese nun filmisch dokumentierte Ankunft von Graffiti und Street Art im renommierten Museum of Contemporary Art aber keineswegs der Widerspenstigen Zähmung bedeutet, zeigt sich am deutlichsten im letzten Kommentar jenes Lee Quinones, der seine paradoxe Situation, in der er Teil einer gefeierten Ausstellung und mit seiner Kunst zugleich kriminalisiert ist, pointiert: „I think haters will always become waiters, at the end of the day.“


Kein Staat in Kreuzberg.

erschienen in der Freitag, 3. Mai 2012.

Vor 25 Jahren wird aus einer Maifeier in Berlin-Kreuzberg ein Aufstand im Kiez, dessen Wucht die Polizei zum Rückzug zwingt. Es ist ein Mythos geboren, der sich halten wird.

„21.25 Uhr, Lausitzer Platz, es brennt an allen Ecken“, steht im Einsatzprotokoll der Berliner Polizei vom 1. Mai 1987 in Kreuzberg. „Es hätte auch Belfast sein können, aber das sind Bilder aus Berlin-Kreuzberg“, beginnt der Tagesschau-Beitrag über die laut Wilhelm Wiebens Anmoderation „schwersten Krawalle seit Jahren“ mit Bildern brennender Barrikaden und einer Krawall-Inventur tags darauf: geplünderte Geschäfte, qualmende Reste einer Bolle-Kaufhalle, ein ausgebranntes Löschfahrzeug, der demolierte Görlitzer Bahnhof.

Christof Albrecht war 1987 taz-Redakteur und Anwohner des Lausitzer Platzes, Ausgangspunkt der Krawalle jener Nacht. „Es war ein gesellschaftlicher Kotzanfall“, sagt Albrecht vor wenigen Tagen im Kreuzberg-Museum bei einer Diskussion zum Thema: „1. Mai 1987 – Aufstand im Kiez oder zügelloser Krawall?“ Die Bilder dieses Ausnahmezustands verfestigten den Mythos des rebellierenden Kreuzbergs.
Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und sein Senat waren 1987 darauf bedacht, die Stadt für „750 Jahre Berlin“ herauszuputzen. Am 12. Juni sollte Ronald „Tear down this wall!“ Reagan zu Besuch kommen. Stadtkosmetik und Jubiläums-Festakte verschlangen öffentliche Gelder, während Berliner Sozialhilfeempfängern im langen Winter 1987 die Aufstockung des Kohlengeldes verweigert wurde. „Die da oben schlagen sich den Magen voll“, beschreibt Albrecht die Stimmung, während es offensichtlich vielen Menschen schlecht ging.

Die Berliner Wohnungspolitik der achtziger Jahre leistete einem Ereignis wie dem 1. Mai 1987 ebenfalls Vorschub. Bereits seit 1960 wurden mit dem „Lücke-Gesetz“ (benannt nach dem damaligen Bundesbauminister Paul Lücke, CDU) die Städte der BRD zu sogenannten Weißen Kreisen, in denen die Mietpreisbindung bei Altbauwohnungen aufgehoben wurde. Zwar ergänzte der Senat das „Lücke-Gesetz“ in seinem Beschluss von 1987 um Mietspiegel, Kappungsgrenzen und Regeln für Mieterhöhungen. Dennoch stiegen die Mieten für eine 70 Quadratmeter große Wohnung in einem Kreuzberger Altbau laut Berliner Mieterverein ab 1988 binnen zehn Jahren von 2,73 Euro auf durchschnittlich 4,13 Euro pro Quadratmeter. Die Folgen des Weißen Kreises waren für den Freiraum derer, die in Kreuzberg alternatives Leben suchten und den Wohnraum derer, die keine Alternative hatten, absehbar. Drohende Mietsteigerungen schürten die Angst vor Verdrängung.

Erheblichen Anteil an der aufgeheizten Stimmung trug die Durchsuchung des Mehringhofes am frühen Morgen des 1. Mais 1987. Dort befand sich das Büro der Kampagne VoBo ’87, die zum Boykott der Volkszählung aufrief. Die Staatsanwaltschaft sah darin eine Aufforderung zur Straftat – Urkundenunterdrückung. In einer an diesem Tag als Provokation der Volkszählungsgegner seitens des CDU-Senats aufzufassenden Durchsuchung beschlagnahmte die Polizei am frühen Morgen des 1. Mais 1987 im Mehringhof tausende Flugblätter.
Am 1. Mai 1987 war außerdem „einfach schönes Wetter“, sagt Ex-Hausbesetzer Georg „Schorch“ Ühlein im Kreuzberg-Museum und auch die Sonderausgabe der taz schreibt am 2. Mai 1987 zur Motivlage vom „Ausbruch des Frühlings (…), der traditionell die Sommerrandale im Viertel aufleben lässt.“

Als sich am frühen Abend des 1. Mai 1987 auf dem Lausitzer Platz eine Spontandemonstration formierte, sperrte die Polizei die Waldemarstraße gegen 18 Uhr ab. In den Nebenstraßen flogen erste Steine, die Polizei löste das Fest auf dem Lausitzer Platz offiziell auf. Ühlein, damals Besucher des Festes, sieht den Grund der Eskalation im unverhältnismäßigen Vorgehen der Polizei. „Der massive Tränengasbeschuss ins Fest hinein“ habe unter vielen Festbesuchern Panik ausgelöst. Hartmut Moldenhauer, damals leitender Polizeidirektor, sagt, die Polizei habe mit der Räumung des Platzes unter Einsatz von Tränengas lediglich versucht, die Situation zu bereinigen.
Mit der Räumung entlud sich die Wut. Gegen 22 Uhr brannten in den Straßen von SO36 Barrikaden, Supermärkte wurden geplündert. Die empfundene Ungerechtigkeit habe die Leute in einen anderen Modus versetzt, erinnert sich Albrecht.

Ühlein erzählt von Kreuzberger Autonomen, die sich angesichts von Plünderern im ekstatischen Rausch schützend vor kleinere Läden gestellt hätten. „Die Polizei ist diesem Ereignis hinterhergelaufen“, erinnert sich Moldenhauer. Gegen 23 Uhr schließlich zog sie sich komplett aus SO36 zurück und überließ den Bezirk bis in die Morgenstunden des 2. Mai den Feiernden, Tobenden, Plünderern und den Flammen, die den Mythos 1. Mai befeuerten.

„Mehrere Stunden war Kreuzberg staatsfrei“, sagt Ühlein. Erst gegen drei Uhr morgens, als der in Schnapsflaschen erbeutete Rausch an den Kräften der Plünderer zehrte, kehrte die Polizei zurück. Wenngleich sich dieses Szenario, der Rückzug der Polizei aus SO36, nie wiederholte, ist es das Fundament des Mythos, auf dem das Ritual seit 25 Jahren fußt. Die bloße Idee der möglichen Wiederholung scheint Triebfeder des Kräftemessens zwischen Polizei und Demonstranten, System und Systemgegner.

Innensenator Wilhelm Kewenigs (CDU) neue Straßenkampf-Spezialeinheit konnte die Krawalle 1988 nicht verhindern. Walter Mompers (SPD) Deeskalationsstrategie von 1989 versagte. Die CDU-Innensenatoren Dieter Eckelmann und Jörg Schönbohm fuhren mit massivem Polizeiaufgebot in den neunziger Jahren die „Strategie der harten Hand“. Spätestens als die Krawalle 1998 unter Schönbohm mit über 400 Festnahmen Festnahmen einen neuen Höhepunkt erreichten, geriet das Konzept in die Kritik. Sein Nachfolger Eckart Werthebach (CDU) verbot die Mai-Demonstration 2001 erstmals, aber auch dieser Strategiewechsel scheiterte. Ehrhart Körting (SPD) setzte ab 2002 mit dem „Konzept der ausgestreckten Hand“ abermals auf Deeskalation, die Zahl der Ausschreitungen sank in den folgenden Jahren. Allerdings kommt es 2009 wider Erwarten zu heftigen Krawallen, die Deutsche Polizeigewerkschaft sieht die Polizisten mit der Deeskalationsstrategie Körtings „zur Steinigung freigegeben“.

Das Krawallritual klebt, in variierender Heftigkeit, fest am 1. Mai und ist bereits im April fester Bestandteil der Berliner Medien-Agenda. Experten werden zum 1. Mai befragt und in einer medial-sozialen Interaktion werden fremde Erwartungshaltungen mitunter zu eigenen – auf Seiten der Demonstranten, der Polizisten und der Berliner Zaungäste. Auch ein Myfest, das seit 2003 von den Anwohnern und dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg organisiert wird, sich politisch gibt, aber in erster Linie im Konsum von Bratwurst, Caipirinha und Popmusik aufgeht, durchbrach das Ritual nicht. Zugleich ist dieses Myfest Ausweis einer Veränderung Kreuzbergs, wo manche Hausbesetzer heute Hausbesitzer sind, andere Arbeiter sowie Arbeitslose sich plötzlich, ohne Umzug, in besseren, nicht mehr bezahlbaren Wohnlagen wiederfanden.
Die Geschichte des Berliner 1. Mai ist seit der Wiedervereinigung auch kein Kreuzberger Phänomen mehr. Die Krawalle verlagerten sich oft in Stadtgebiete, die ein Schicksal mit Kreuzberg teilten: Altbauquartiere, die zum Spielball von Immobilienspekulationen wurden. In den Neunzigern kam es zu Ausschreitungen in Prenzlauer Berg und Mitte, später steht Friedrichshain auf der Krawall-Karte – stets zu einer Zeit, in der die Gentrifizierung jener Stadtteile Fahrt aufnahm.
Einerseits im Versuch der Deattraktivierung von Aufwertung bedrohter Stadtteile, andererseits im Versuch, Demonstrationen von Neonazis notfalls auch gewalttätig zu unterbinden, lassen sich politische Motivationen der Mai-Krawalle erkennen. Der 1. Mai ist aber auch seit 25 Jahren attraktives Event und Ventil für schaulustige Krawalltouristen. Mehr verbindend als einander ausschließend ist der 1. Mai in Berlin seit 1987 folglich immer schon Aufstand im Kiez und zügelloser Krawall. Über das Kräfteverhältnis von testosterongesteuerter Männergewalt und politischer Motivation ist damit noch nichts gesagt.


So viele Augen, so wenige Blicke.

erschienen in der Freitag, 1. Februar 2012.

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Am 5. Februar wird Rudolf Lorenzen 90 Jahre alt. Die Hustenmary, ein neuer Band des Chronisten Westberlins versammelt seine Kurzprosa.

“Des Autors Kampf beginnt vor der ersten Zeile, die er schreibt. Es sei denn, ein Schriftsteller – cleverer und geschmeidiger von Charakter – schreibt nach der Mode”, lautet Rudolf Lorenzens Diagnose zur Ökonomie der Literatur im kurzen Text Über den Verleger von 1971. Lorenzen ist Meister der langen Form – seine Romane sind detaillierte, schlicht anmutende, aber wirkungsvolle Dokumentationen deutscher Gesellschaft. Dennoch blieb ihm der große, in Auflage messbare Erfolg verwehrt. Weil er gegen die Mode schreibt und es nicht Lorenzen, sondern seine Romanfiguren sind, denen es an charakterlicher Geschmeidigkeit nicht mangelt. Anpassung und Opportunismus sind zentrale Sujets seiner literarischen Reflexionen in Romanform. Zu Lorenzens 90. Geburtstag erscheint nun im Verbrecher Verlag im Rahmen einer Werkauswahl Die Hustenmary, eine Sammlung kürzerer Texte.

Als “Berliner Momente – Texte aus den letzten fünfzig Jahren über die Westberliner Boheme” bewirbt der Verlag das Buch. Die soziale Kategorie Boheme, die eine künstlerische und in Berlin zuweilen öfter künstliche Lebensweise beschreibt, hat nicht erst seit sich die “Digitale” den Begriff vor den Karren spannt, einen faden Beigeschmack. Schon in Die Hustenmary sind jene Texte aus den letzten 50 Jahren weitaus stärker, die abseits von Boheme spielen.
Texte wie Notdienst hinter Gittern von 1966, eine Verdichtung über die nächtliche Einsamkeit des Großstädters, darüber, dass Schmerz zu ungelenker Annäherung, einmal entfachte Sehnsucht wiederum zurück in den Schmerz führen kann.
Bei Georg Simmel ist Großstadt auch Vergewaltigung des Seelenlebens, der es mit Verstand zu begegnen gilt. Was Simmel meint, übersetzt Lorenzen in Hotel Arosa handwerklich gelungen in streckenweise ungefiltertes Informations-Stakkato – “Im Hotel muss immer etwas los sein”. Der Leser gewinnt nach Hektik über Seiten ein Gespür für die Notwendigkeit selektiver Wahrnehmung in Großstädten.
Auch Eisbahn im Europa-Center ist ein intensives Beobachtungsprotokoll großstädtischen Lebens. In dieser Momentaufnahme spiegelt sich Berlin in den Bewegungen auf dem Eis. Auf der Bahn wird geträumt, geprahlt, gespielt, gestolpert. Man gleitet auf engem Raum aneinander vorbei, kaum einer nimmt Notiz vom anderen. So viele Augen, so wenige Blicke füreinander. Lorenzen ist auf der kurzen Erzählstrecke über Berlin immer dort am präzisesten, wo er außen ist.

Von Voraussicht zeugen Texte wie Rolf Eden sucht Berlins letztes Talent. Rolf Eden und der Kudamm haben in den letzten 45 Jahren gemeinsam an Glanz verloren. Ob der Ort mit Eden oder Eden mit dem Ort untergeht, bleibt offen. Mit der Talentsuche hingegen verhält es sich heute allerorts wie damals schon bei Eden: das Talent ist rar. „Einer hat einmal angefangen mit dem Heulen, und nun glaubt jeder, er kann es auch”, beschreibt Lorenzen die “Musiktalente” und ergänzt diese Beobachtung um zeitlos aktuelle Realität: „Wollen wir uns die Talente merken? Ach, wir werden sie vergessen. Im nächsten Jahr sprießen neue.“
Lorenzens Einsichten in die Westberliner Boheme hingegen wirken so befangen, wie sie sein müssen, wenn der Beobachter Teil der Beobachtung und kein Außen möglich ist. Selbstreferentiell erschöpfen sich einige dieser Texte im Namedropping der Originale dieser Westberliner Zeit. „Kreuzberg darf nicht überschwemmt werden vom Tourismus, dessen nivellierendes Spezifikum schon immer war, die Originale zu vertreiben und Bizarres einzuebnen in eine Wüstenei, die allenfalls noch originell zu nennen ist“, schreibt Lorenzen in Einblick ins Milljöh von 1970.

Richtig, nur leistet die Boheme oder vielmehr das, was sich noch so nennt, wenn bereits darüber geschrieben wird, schon immer ihren Beitrag. Die Geschichte Rudolf Platte bummelt durch Kreuzberg liefert dem Skeptiker sogleich den Beweis dafür, welch allenfalls noch originelle Außenwirkung die Westberliner Boheme hat. Ein Engländer bittet den Schauspieler Rudolf Platte um ein Autogramm in seinen Reisepass. Platte zögert vor dem Dokument, der junge Engländer bestärkt ihn. “Schreiben Sie nur rein. Ich komm’ sowieso nicht wieder her.”
Namenspatronin der Textsammlung Die Hustenmary ist eine Wilmersdorfer Prostituierte, deren Biographie Lorenzen in Dialekt als Hommage protokolliert. Das verschollene Berliner Original, die stereotype Kodderschnauze mit Herz – nur wirkt das mundartliche Lokalkolorit platt.

Die Nachwirkungen der Hustenmary-Sammlung sind so kurz wie die Texte. Den großen Schriftsteller Lorenzen bekommt man dagegen in seinen Romanen. Alles andere als ein Held, sein Debüt von 1959 und Geschichte von Robert Mohwinkel, der sich als Passepartout des Kleinbürgertums angepasst und opportunistisch durch Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit windet. Oder Die Beutelschneider von 1962, worin Lorenzen das Wirtschaftswunder als fragiles, betrügerisches Geflecht entlarvt und zugleich die Literatur- und Kulturindustrie karikiert. Im Literaturbetrieb ist Rudolf Lorenzen nicht groß geworden, dafür fehlt es seinem Charakter an ebenjener Geschmeidigkeit. um nach Moden zu schreiben. Spurlos scheint die wenige Beachtung seiner Werke aber auch an Lorenzens Ego nicht vorbeigegangen zu sein, wie der Text Über den Verleger beweist. Demnach seien Verleger das Unkraut der Literatur und machten Autoren nur das Leben schwer. “Der Autor resigniert, verliert die Lust an weiteren Büchern, Werbetexte wird er dichten, Kurzgeschichten für Sonntagsblätter”, benennt Lorenzen das Los der Ungeschmeidigen.

Der Literatur über die Deutschen im 20. Jahrhundert hat Lorenzen mit seinen Romanen allerdings Dokumentationen hinzugefügt, die den Leser an klar beschriebenen Wirklichkeiten der Vergangenheit teilhaben lassen, im Gegensatz zur Vermarktbarkeit durchaus ein Qualitätsmerkmal guter Literatur. Zieht man nun Die Hustenmary zum Vergleich heran, muss man Lorenzen wieder an den Startblock der literarischen Langstrecke rufen, mit den treffenden Worten der namensgebenden Wilmersdorfer Prostituierten: “Dein Paris ist hia!”

Hintergrund:

Die Hustenmary, Rudolf Lorenzen, 128 Seiten, Verbrecher Verlag, 18 Euro

In der Werkauswahl Lorenzens, die der Verbrecher Verlag herausgibt, sind außerdem bisher erschienen: Kein Soll mehr und kein Haben (2007), Alles andere als ein Held (2007); Die Beutelschneider (2007); Bad Walden (2008); Paradies zwischen den Fronten (2009); Ohne Liebe geht es auch (2010); Rhythmen, die die Welt bewegten, Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950 (2010)


Thälmann weg, alles gut.

Kommentar

erschienen in der Freitag, 28. Januar 2012.

Mit einer Geschichtspolitik, die an die Nachwendejahre erinnert, spielt die Brandenburger CDU der DDR-Nostalgie weiterhin die Trümpfe zu

Der Verkehrsminister Peter Ramsauer hat kürzlich in Berlin angeregt, das Marx-Engels-Denkmal ins „sozialistische Reste-Zentrum“ nach Alt-Friedrichsfelde umzusetzen. Ramsauers Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte erschöpft sich demnach in der simplen Gleichung Marx und Engels = DDR = Diktatur, die Lösung ist Entfernung der zersetzenden Elemente. Das kennt man. Aber nicht nur Ramsauer verhilft dem geschichtspolitischen Sound der Nachwendezeit zum Comeback. Die Brandenburger CDU-Vorsitzende Saskia Ludwig lässt derzeit mit einer Kleinen Anfrage erörtern, ob und wie viel DDR sich zwischen Senftenberg und Prenzlau über die Zeit gerettet hat. Die CDU in Hohen Neuendorf brachte kurz darauf einen Antrag zur Umbenennung des Ernst-Thälmann-Platzes durch.

Anlass für Ludwigs Umtriebe ist eine Forsa-Umfrage, derzufolge zwei Drittel der Brandenburger eine Auseinandersetzung mit der DDR für notwendig erachten. Für Ludwig bedeutet das, 24 Fragen nach der DDR-Symbolik im öffentlichen Raum zu formulieren. Mit diesem Katalog wird sie Aufarbeitung fordern, die wieder nur Abarbeitung sein wird, durch Umbenennung von Orten, die „von kommunistischen Namenspatronen und sozialistischen Helden der SED-Diktatur geprägt sind“.
Hohen Neuendorf ist Ludwigs Musterschüler. Die Eiche, die dort 1933 zu Ehren Hitlers gepflanzt wurde, steht künftig auf dem Müllheimer Platz, wie der Thälmann-Platz nun heißen wird.
Angetrieben wurde Frau Ludwig aber wohl eher durch die positiven Assoziationen zur DDR, die 73 Prozent der Brandenburger laut der erwähnten Forsa-Umfrage auch haben. Die politisch verkürzte Deutung hierzu heißt: verklärte Nostalgie, weil man den Bürgern nicht zutraut, zwischen politischem und sozialem Gedächtnis zu unterscheiden.
Es wären aber traurige Massen, gäbe es in den sozialen Gedächtnissen keine positiven Assoziationen zum Leben in der DDR.

Wer sich erinnert, ruft Gespeichertes ab und verknüpft dieses mit seiner Gegenwart. Erinnerung braucht Anknüpfungspunkte. Die Erinnerungskultur der Nachwendejahre, deren wesentliches Merkmal es war, schnellstmöglich Abstand zur DDR zu gewinnen, hat Begriffe aus den Wortschätzen sowie Gebäude und Straßennamen aus den Stadtbildern radiert. Mitunter als Entwertung von Biografie empfunden, war es auch Verlust kultureller Identität. Wenn Konfrontation mit der eigenen und kollektiven Vergangenheit nicht möglich ist, weil die Anknüpfungspunkte verschwinden, wird als Nebenwirkung dieser „Aufarbeitungspolitik“ aus Erinnerung verklärte Nostalgie. Daran sollte man die Brandenburger CDU vielleicht erinnern, bevor sie wieder zu den geschichtspolitischen Mitteln der frühen Neunziger greift.
Beachtenswerter sind eh andere Umfragewerte: Brandenburg meint mehrheitlich, dass es den Menschen heute besser gehe, obwohl drei Viertel die Lebensleistungen der Ostdeutschen nicht ausreichend anerkannt sehen. Für fast die Hälfte vollzog sich die Einheit zu schnell, aber 86 Prozent bezeichnen sich heute als überzeugte Demokraten.
Wer das partout nicht wahrhaben will, hat viel zu tun: Laut Post tragen in den neuen Bundesländern noch etwa 400 Orte den Namen „Thälmann“, auf knapp 30 Straßenschildern steht „Lenin“, auf einem „Straße des 7. Oktober“. Sollte auf sie auch der Tarnmantel der Auf­arbeitung fallen, bewirkte dies nur, dass die DDR im kollektiven Gedächtnis immer kuscheliger erscheint.